SG055 Bezugssysteme: Inertial- und beschleunigte Bezugssysteme ©
H. Hübel Würzburg 2013
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(1) Stell' dir vor, du stehst auf dem Bahnsteig (C) eines Bahnhofs und ein Zug (nennen wir ihn A) fährt gerade mit einer konstanten Geschwindigkeit v durch. Im Zug A sitzt ein Kind und lässt einen Ball fallen. Das Fenster ist groß genug und die Geschwindigkeit geeignet, so dass auch du den ganzen Fall beobachten kannst.
Aus der Sicht des Kindes in A: Der Ball fällt senkrecht nach unten (und springt dann wieder hoch), so wie das im ruhenden Zug wäre.
Aus deiner Sicht (C): Während der Ball fällt, bewegt er sich auch horizontal mit der Geschwindigkeit des Zugs. Der Aufprall erfolgt vielleicht schon in großer Entfernung am Ende des Bahnsteigs. Der Ball scheint aus deiner Sicht eine Parabelkurve zu durchlaufen. Du könntest das sogar filmen. Wir müssen sagen: Der Ball durchläuft aus deiner Sicht tatsächlich eine Parabelkurve.
Du orientierst dich an den Gegenständen des Bahnsteigs: Bänke, Getränkeautomaten, Säulen für das Dach, ... Wir sprechen von einem Bezugssystem C (BZS C). Du beurteilst den Fall aus der Sicht des BZS C. Das Kind im Zug A orientiert sich am Wageninneren. Er befindet sich in einem BZS A. Man nennt gleichförmig gegeneinander bewegte Bezugssysteme Inertialsysteme.
Ein und derselbe Vorgang kann in unterschiedlichen Bezugssystemen unterschiedlich aussehen. |
Kann man nicht aus dem unterschiedlichen Aussehen des Falls darauf schließen, dass der Zug bewegt ist? Du weißt aber doch, dass das Kind glauben könnte, es selbst ruhe (im Zug A), während du dich mit der umgekehrten Zuggeschwindigkeit -v nach hinten bewegst. Wenn auch du einen Gegenstand fallen ließest, würde das Kind auch in seinem BZS A eine Parabelkurve sehen. Zudem: Auch im BZS C allein könntest du eine gleichartige Parabelkurve wie im Zug (aus deiner Sicht) erzeugen, wenn du einem fallenden Gegenstand eine horizontale Anfangsgeschwindigkeit v (in Fahrtrichtung) erteilen würdest.
Pech gehabt! Vorgänge der Mechanik sehen zwar in unterschiedlichen Inertialsystemen unterschiedlich aus, aber sie ermöglichen keine Entscheidung, welches BZS bewegt ist. Wir können nur sagen: BZS A ist "im Vergleich zu" BZS C mit der Geschwindigkeit v bewegt, oder gleichwertig, BZS C ist "im Vergleich" zu BZS A mit der Geschwindigkeit -v bewegt.
Zwei Inertialsysteme sind durch mechanische Vorgänge oder Gesetze nicht zu unterscheiden (andernfalls könnte man auf die "absolute" Bewegung eines BZS schließen) (Galilei'sches Relativitätsprinzip). |
Deswegen hat es in der Physik keinen Sinn, von einem "bewegten Gegenstand" oder einem "ruhenden Gegenstand" zu sprechen. Es hat nur einen Sinn, zu behaupten, dass ein Gegenstand "im Vergleich zu" einem BZS A ruht, während er "im Vergleich zu" einem BZS C in Bewegung ist. Statt "im Vergleich zu" sagt man häufig auch "relativ zu".
Jeder Gegenstand ruht in einem bestimmten Bezugssystem, während er in anderen Bezugssystemen bewegt ist. |
Einstein hat das Galilei'sche Relativitätsprinzip auf beliebige physikalische Gesetze verallgemeinert, was heute wegen seiner korrekten Folgerungen allgemein anerkannt ist:
Zwei Inertialsysteme lassen sich durch physikalische Vorgänge oder Gesetze nicht unterscheiden (andernfalls könnte man auf das schnellere System schließen) (Einstein'sches Relativitätsprinzip). |
Also auch elektrische oder magnetische Vorgänge können in zwei Inertialsystemen unterschiedlich aussehen, ermöglichen aber keine Entscheidung, welches BZS bewegt ist bzw. ruht.
(2) Stell' dir nun vor, du sitzt in einem Zug A, während sich auf dem Nachbargleis ein zweiter Zug B befindet. Wenn du in das Fenster des Nachbarzug schaust, kannst du Blickkontakt mit dem netten Jungen in B aufnehmen.
(a) Das geht eine ganze Weile so; nichts ändert sich. Du merkst gar nicht, dass beide Züge ganz langsam angefahren sind. Auch als dem Jungen in B das Handy entgleitet, siehst du wie es senkrecht nach unten fällt, wie im ruhenden Zug. Wenn du nicht den Bahnsteig und die umliegenden Häuser anschaust, kannst du in diesem Fall nicht entscheiden, dass sich die Züge mit konstanter Geschwindigkeit bewegen. Sie scheinen "im Vergleich zueinander" zu ruhen. Stellen wir uns vor, das ganze geschehe in einem dunklen Tunnel, dessen Wände nicht sichtbar sind. Weder du noch der Junge in B kann feststellen, dass sich die beiden Züge im Vergleich zu den Schienen bewegen.
(b) Doch allmählich bleibt der Junge in B zurück. Fährt sein Zug B jetzt mit konstanter Geschwindigkeit langsamer als deiner oder fährt dein Zug jetzt mit konstanter Geschwindigkeit schneller als der andere? Verringert sein Zug B jetzt die Geschwindigkeit oder erhöht sie dein Zug A? Das sind zwei Fragen, die gar nicht so einfach zu entscheiden sind.
Aber es gibt Beschleunigungssensoren, technische und natürliche; du hast sogar welche in deinem Magen. Sie würden ansprechen, besonders, wenn du dich ruckartig, also deutlich beschleunigt, in Bewegung setzen oder abbremsen würdest.
Vielleicht hast du das bei einem Flugzeugstart schon einmal bemerkt. Auch mit geschlossenen Augen spürst du, dass das Flugzeug zunächst beschleunigt wird und dann abhebt.
Ähnliches wäre der Fall, wenn dein Zug A beschleunigen würde. Der Junge im Zug B würde keine Beschleunigung spüren.
Wenn A beschleunigt wird, ist das eindeutig von BZS A aus zu entscheiden. Ein beschleunigtes BZS ist kein Inertialsystem. |
(Ganz entsprechend natürlich, wenn B im Vergleich zu A beschleunigt wird. Dagegen: Eine gleichförmige Bewegung von A im Vergleich zu B ist nicht von einer gleichförmigen Bewegung von B im Vergleich zu A zu unterscheiden.)
(3) In einem beschleunigten BZS wirken Kräfte, die in einem gleichförmig bewegten BZS nicht vorhanden sind, so genannte "Trägheitskräfte". Dein Magen reagiert u.U. sehr empfindlich auf Trägheitskräfte.
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( Oktober 2013 )